Das 9-Euro-Ticket offenbart die strukturellen Probleme des ÖPNV
Aus Angst vor einer Ansteckung mit COVID-19 mieden viele Passagiere 2020 und 2021 den ÖPNV. Der als Spätfolge der Pandemie schon ab Herbst 2020 stark gestiegene Rohölpreis ließ allerdings die Kraftstoffpreise in die Höhe schnellen und sorgte somit wieder für ein wachsendes Fahrgastaufkommen. Ein erneuter Rohölpreisanstieg im Zuge des Ukraine-Konflikts sowie auslaufende Homeoffice-Regelungen und das zwischen Juni und August 2022 geltende 9-Euro-Ticket haben die Attraktivität des ÖPNV zusätzlich deutlich erhöht. Zugleich werden aber auch die strukturellen Probleme des ÖPNV stärker ersichtlich.
Struktur und Finanzierung
Zum ÖPNV im engeren Sinne zählen Busse, Straßenbahnen, Regionalzüge und auch ungewöhnlichere Verkehrsmittel wie Schwebebahnen. Im weiteren Sinne fallen hierunter auch die Überland-Buslinien, die Taxibetriebe, bestimmte Binnenfähren und Wassertaxis. Organisiert wird der ÖPNV jeweils von einem Aufgabenträger, der Verkehrsunternehmen bestellt. Im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) sind die Besteller mehrheitlich die Bundesländer, im öffentlichen Straßenpersonennahverkehr (ÖSPV) immer die Kommunen.
Im Schnitt wird rund ein Drittel des ÖPNV über Fahrgeldeinnahmen finanziert, der Rest über Subventionen. In großen Städten beträgt der Anteil der Fahrgeldeinnahmen oft zwei Drittel, im ländlichen Raum hingegen nur etwa 10 %. Die Subventionen kommen auf kommunaler Ebene zumeist aus den Gewinnen von Stadtwerken, aus anderen Bereichen sowie durch Landeszuschüsse zustande, die wiederum häufig aus Bundeszuschüssen stammen.
Die meisten Regionen Deutschlands werden von einem Verkehrsverbund bedient. Innerhalb der verschiedenen Verkehrsverbünde gelten ähnliche Tarifmodelle, wobei die Preise in den Verbünden größerer Städte stärker von den Durchschnittspreisen abweichen können. Manche Verkehrsverbünde haben sich wiederum zu Zweckverbünden zusammengeschlossen, um beispielsweise auch die Organisation des SPNV als Aufgabenträger zu übernehmen.
Trends
Insbesondere Buslinien im ÖPNV und im SPNV werden zunehmend von privaten Subunternehmern bzw. Privatbahnen betrieben. Diese können die Dienstleistungen in der Regel kostengünstiger als Unternehmen im öffentlichen Besitz ausführen. Während der Trend im SPNV zur Reaktivierung stillgelegter Strecken geht, werden Überlandlinien im ländlichen Raum weiterhin im Zuge von Einsparmaßnahmen ausgedünnt.
Da es in Deutschland über 100 Verkehrs- und Tarifverbünde mit eigenen Tarifsystemen gibt, fällt es den Fahrgästen insbesondere bei verbundsübergreifenden Fahrten schwer, den Überblick über die Tarife zu behalten, was die Attraktivität des ÖPNV senkt. Eine geringe zweistellige Zahl an Verkehrsverbünden hat sich über den Dienstleister VDV eTicket Service zusammengeschlossen, um zumindest die Abrechnung der Fahrtkarten über ein einheitliches Chipkartensystem zu ermöglichen.
Eine weitere Reformanstrengung im ÖPNV ist das Mobility-inside-Projekt, bei dem sich Gesellschafter aus dem ÖPNV-Umfeld zusammengeschlossen haben, um für die Fahrgäste eine App zu entwickeln, mithilfe derer Tickets für die teilnehmenden Verbünde gebucht und außerdem verbundsübergreifende Fahrplaninformationen abgerufen werden können. Das Projekt ist noch in der Testphase.
Situation im Ausland
Am einfachsten lässt sich ein hervorragend funktionierendes ÖPNV-System in Stadtstaaten oder in Ländern mit einer sehr kleinen Fläche und einer hohen Bevölkerungsdichte organisieren. Dies zeigen die Beispiele Singapur oder Hongkong. Hier funktionieren die ÖPNV-Systeme nahezu kostendeckend oder erwirtschaften sogar Gewinne. Zudem werden sie von der Bevölkerung sehr gut angenommen. Dies hängt allerdings auch damit zusammen, dass dort sehr viele Bewohner keinen eigenen Pkw haben.
Stadtstaaten oder kleine Länder bieten den Vorteil, dass dort flächendeckend ein einheitliches Tarifmodell ohne Weiteres implementiert werden kann. Außerdem ist dort häufig nur eine lokale Institution für die Organisation des ÖPNV zuständig, was Kompetenzstreitigkeiten von vornherein vermeidet. Diese Beispiele sind aber nur bedingt mit dem relativ großen Deutschland vergleichbar, am ehesten noch mit den deutschen Metropolregionen.
In der Schweiz gibt es die Besonderheit, dass durch eine enge Abstimmung von Verkehrsunternehmen und lokalen Verkehrsverbünden, aber insbesondere durch die Existenz eines nationalen Tarifverbunds, dem sogenannten Direkten Verkehr Schweiz, es fast überall möglich ist, Tickets für andere Verkehrsunternehmen zu kaufen. Außerdem werden Tickets immer streckenweise erworben und können auch für den Eisenbahnfernverkehr benutzt werden.
In Luxemburg sind seit Ende Februar 2020 alle öffentlichen Verkehrsmittel, auch Fernverkehrszüge innerhalb des Landes, in der 2. Klasse kostenfrei. Auch vorher gab es schon die Option, zu relativ günstigen Preisen eine Zeitkarte für das gesamte Land zu erwerben. Die Schweiz und Luxemburg sind zwar deutlich kleiner als Deutschland, weisen aber eine ähnliche Siedlungsdichte auf und dienen somit teilweise als gutes Beispiel.
Reformmöglichkeiten
Die unübersichtliche Tarifstruktur zwischen Verbünden, teilweise auch innerhalb von Verbünden, schreckt viele potenzielle Nutzer ab. In Israel hat man seit den späten 2000er-Jahren damit begonnen, die öffentlichen Verkehrsunternehmen und Verbünde des Landes mit ihren Ticketsystemen auf eine einheitliche Plattform zu bringen. Die Tarifautonomie bleibt beim Rav-Kav-Ticketsystem jeweils erhalten, nur die Schnittstellen werden optimiert.
Ein solches System in Deutschland zu integrieren, bei dem jeweils auch mehrere Abos auf eine Karte geladen werden können und bei dem für die Kunden ohne viel Aufwand der günstigste Preis ermittelt wird, würde die Attraktivität des ÖPNV und allgemein des öffentlichen Verkehrs inklusive des Eisenbahnfernverkehrs massiv erhöhen. Allerdings würde die Abstimmung der vielen Verkehrsverbünde untereinander einen immensen Planungsaufwand bedeuten, was so ein Projekt mittelfristig unwahrscheinlich macht.
Eine weitere große Herausforderung für den ÖPNV ist die Unterfinanzierung vielerorts. Mehr Nutzer würden zwar zu höheren Einnahmen führen, aber gleichzeitig auch den Ausbau- und Modernisierungsbedarf erhöhen. Die Nutzung des 9-Euro-Tickets hat vielerorts, insbesondere an den Wochenenden, zu überfüllten Fahrzeugen geführt, aber gleichzeitig auch das generelle Nutzungsinteresse der Bevölkerung aufgezeigt, sofern der ÖPNV preislich attraktiv ist.
Die Lösung könnte möglicherweise ein rein staatlich finanzierter oder noch stärker subventionierter ÖPNV sein, wahrscheinlich unter größerer Beteiligung des Bundes als bisher. Solche Ansätze dürften immer häufiger die öffentliche Debatte prägen. Denkbar ist möglicherweise auch die Einführung eines 365-Euro-Jahrestickets für ganz Deutschland für den ÖPNV als Nachfolger des beliebten 9-Euro-Tickets.
„Das 9-Euro-Ticket ist eine einmalige Chance, ein Kundenerlebnis für viele Neukunden zu schaffen,“ so die Deutsche-Bahn-Digitalchefin Dr. Daniela Gerd tom Markotten.
Fazit
Die wichtige Maßnahme, um die Attraktivität des ÖPNV nachhaltig zu erhöhen, dürfte zuerst eine gewisse Zentralisierung der Organisation beziehungsweise eine erheblich verbesserte Zusammenarbeit der einzelnen Verbünde sein. Sollte die Deutsche Bahn AG in eine Betriebs- und eine Infrastrukturgesellschaft aufgespalten werden, würde sich die DB Vertrieb innerhalb der Infrastrukturgesellschaft als organisatorische Dachgesellschaft für die ÖPNV-Organisation, analog dem Schweizer Modell, anbieten.