Der Kriegsausbruch in Osteuropa erhöht das Risiko einer Stagflation
Russlands Überfall auf sein Nachbarland beschert der deutschen Wirtschaft, die bereits im vergangenen Jahr unter Materialengpässen litt, neue Belastungen. Steigende Preise für Rohstoffe und Energie wirken sich negativ auf die Industrieproduktion aus und dürften sowohl das Exportvolumen senken als auch das Wirtschaftswachstum dämpfen.
Neue Wirtschaftssanktionen
In Reaktion auf den Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine Ende Februar 2022 hat die westliche Staatengemeinschaft weitreichende Wirtschafts- und Finanzsanktionen verhängt. Durch die gezielte Schwächung der Wirtschaft sollen die ökonomischen Kosten des Krieges für die russische Führung um Wladimir Putin massiv erhöht werden.
Zentraler Bestandteil der Strafmaßnahmen ist der weitgehende Ausschluss des russischen Finanzsektors aus dem globalen Finanzsystem. So wurde ein Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank verhängt und ihre ausländischen Vermögenswerte wurden eingefroren. Neben der Zentralbank wurden auch die meisten der führenden russischen Geschäftsbanken sanktioniert und Anfang März aus dem internationalen Finanz-Kommunikationssystem Swift ausgeschlossen.
Hinzu kommen weitere Sanktionen gegen führende russische Politiker sowie Organisationen und Unternehmen mit Verbindungen zur russischen Führung, die Sperrung des Luftraumes in Europa und Nordamerika für russische Flugzeuge sowie Verkaufs- und Ausfuhrverbote für bestimmte Güter und Technologien aus den Bereichen Luft- und Raumfahrt, Halbleitertechnik und Erdölveredelung. Darüber hinaus verkündete die deutsche Regierung die vorläufige Aussetzung der Inbetriebnahme des deutsch-russischen Pipelineprojekts Nord Stream 2.
Ersten Schätzungen zufolge dürften die westlichen Strafmaßnahmen die russische Wirtschaft hart treffen. Die amerikanische Großbank J.P. Morgan Chase geht aktuell davon aus, dass das russische Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2022 um 35 % schrumpfen könnte. Für das Gesamtjahr 2022 wird mit einem Rückgang der russischen Wirtschaftsleistung um 7 % und einem galoppierenden Inflationsgeschehen gerechnet.
Handelsbeziehungen
Auch innerhalb der deutschen Wirtschaft haben sich die ersten Folgen des bewaffneten Konflikts in der Ukraine bereits bemerkbar gemacht. Der Beginn der Kampfhandlungen wirkte sich zum Beispiel negativ auf den internationalen Schiffs- und Luftverkehr aus, weil ukrainische Häfen und Flughäfen nicht mehr angesteuert werden konnten und über Russland führende Flugrouten westlicher Fluggesellschaften umgeplant werden mussten. Auch die Lieferketten der deutschen Automobilhersteller waren kurzfristig stark betroffen. Weil wichtige Zulieferbetriebe für Kabelbäume in der Westukraine ausfielen, kam es bereits wenige Tage nach Ausbruch der Kampfhandlungen zu Produktionsunterbrechungen in mehreren inländischen Fahrzeugwerken.
Im vergangenen Jahr exportierte Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Waren und Dienstleistungen im Wert von 26,6 Milliarden Euro nach Russland, was einem Anteil von 1,9 % an den gesamten deutschen Ausfuhren in diesem Jahr entsprach. Die Exporte in die Ukraine summierten sich auf einen Wert von 5,4 Milliarden Euro. Damit erscheint die außenwirtschaftliche Bedeutung der beiden Länder im Vergleich zu den Handelspartnern in der Europäischen Union, den USA oder China, zunächst gering, auch wenn in einigen Teilsegmenten des Maschinenbaus wie der Herstellung von Land- und Baumaschinen der Anteil der Exporte nach Russland und in die Ukraine mehr als doppelt so hoch ist wie derjenige der Gesamtwirtschaft. Allerdings sind beide Länder außerordentlich wichtige Rohstofflieferanten für die deutsche Industrie und Landwirtschaft.
Im vergangenen Jahr beliefen sich die deutschen Importe aus Russland auf 33,1 Milliarden Euro. Neben Energieträgern wie Erdöl, Kohle und Erdgas, die den mit Abstand größten Anteil an den Einfuhren ausmachten, beinhalteten diese in erster Linie Industriemetalle und Mineralien. Für die deutsche Chemieindustrie ist russisches Erdgas nicht nur ein wichtiger Inputfaktor für die Energieerzeugung, sondern auch für die Chemikalienproduktion. Etwa 40 % des gesamten Erdgasverbrauchs der Branche entfallen auf dessen Nutzung als Vorprodukt in der Produktion. Russland deckt zudem 20 % des deutschen Bedarfs an Palladium, 30 % des Vanadiumbedarfs und 40 % des Nickelbedarfs ab. Diese Metalle sind wichtige Hilfsstoffe und Vorprodukte für die Stahlerzeugung und die Automobilproduktion.
Die Ukraine dagegen ist ein bedeutender Exporteur von Metallen wie Titan und Mangan sowie von Edelgasen wie Neon, die zur Herstellung von Halbleiterprodukten benötigt werden. Zudem ist die Ukraine für die Länder der Europäischen Union der wichtigste Lieferant von Futtermais für die Schweine- und Geflügelzucht. Nach Angaben des Deutschen Bauernverbands lagern in den ukrainischen Schwarzmeerhäfen aktuell acht Millionen Tonnen Mais, die aufgrund der Kampfhandlungen nicht verschifft werden können − diese Menge entspricht einem Viertel der Jahresproduktion.
Einschnitte im Außenhandel
Der mit den Verwerfungen im Außenhandel verbundene gesamtwirtschaftliche Schaden ist zum aktuellen Zeitpunkt nur schwer zu bestimmen. Branchenverbände wie der Verband der Automobilindustrie rechnen beim Bezug von Rohmaterialien aufgrund von Angebotsverknappungen mit langfristigen Preisanstiegen. Der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen erwartet, dass auch der nicht sanktionierte Handel mit Russland weitestgehend zum Erliegen kommen könnte, zumindest kurzfristig. Bedingt wird diese Entwicklung neben den Swift-Sanktionen auch durch den Beschluss der Bundesregierung, bis auf Weiteres keine Investitionsgarantien und Hermes-Bürgschaften für Exporte nach Russland mehr zu vergeben.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag passte vor dem Hintergrund der russischen Invasion der Ukraine seine Prognose zur Entwicklung des deutschen Außenhandels im aktuellen Jahr an. War zuvor noch ein Exportwachstum von 6 % gegenüber dem Vorjahr erwartet worden, will der Verband nun sogar einen preisbereinigten Rückgang der Exporte in diesem Jahr nicht ausschließen. Die Ratingagentur Scope senkte ihre Wachstumsprognose für die Gesamtwirtschaft von 4,4 % auf 3,5 %.
Direktinvestitionen entwertet
Neben den unmittelbaren Auswirkungen auf den Außenhandel stellt der Kriegsausbruch den Wert der Direktinvestitionen, welche deutsche Unternehmen in Russland getätigt haben, stark in Frage. Bereits in den vergangenen Jahren hatten sich deutsche Unternehmen angesichts schwieriger Geschäftsbedingungen in Russland und der Sanktionen, die im Zusammenhang mit der Annexion der Halbinsel Krim von westlicher Seite aus erlassen wurden, zunehmend aus dem russischen Markt zurückgezogen. Nach Angaben der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer sank im Zeitraum zwischen 2011 und 2021 die Zahl deutscher Unternehmen mit Niederlassungen in Russland um 40 %.
Gleichwohl war Deutschland mit einem Investitionsvolumen, das nach Angaben des European Investment Monitors der Beratungsgesellschaft Ernst & Young in den Jahren vor dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie zwischen 24 und 36 Milliarden Euro pro Jahr schwankte, noch vor China und den USA wichtigstes Herkunftsland von Direktinvestitionen in die russische Wirtschaft. Obwohl der größte Teil der deutschen Direktinvestitionen zuletzt in den Agrarsektor floss, waren die umsatzstärksten deutschen Unternehmen auf dem russischen Markt bis dato die drei großen deutschen Automobilkonzerne, die dort auch eigene Produktionskapazitäten für die Bedienung der örtlichen Nachfrage aufgebaut hatten. Viele diese Engagements werden aufgrund des nunmehr stark erhöhten politischen Risikos und der schlechten Geschäftsaussichten vorläufig eingestellt, in Teilen sogar komplett abgewickelt.
Große Abhängigkeiten von fossilen Energieträgern
Neben Engpässen und Kostensteigerungen bei industriellen Vorprodukten geht von steigenden Energiepreisen aktuell die größte konjunkturelle Gefahr für die deutsche Wirtschaft aus. So erreichte der Ölpreis Anfang März seinen höchsten Stand seit 2008 und auch die Terminkontrakte für Erdgas am niederländischen Übergabepunkt TTF erreichten aufgrund der mit dem Kriegsausbruch verbundenen Unsicherheiten ein neues Allzeithoch.
Insbesondere bei der Versorgung mit Erdgas besteht eine große Abhängigkeit von Russland, das sich für mehr als die Hälfte der deutschen Gasimporte verantwortlich zeichnet. Im Gegensatz zu anderen Rohstoffen und industriellen Vorprodukten kann Deutschland in diesem Bereich nur in sehr eingeschränktem Umfang flexibel auf andere Lieferanten umschwenken. Das gilt vor allem für Branchen wie die Chemie- und Pharmaindustrie, aber auch für die Stahlerzeugung und Teile der metallverarbeitenden Industrie sowie für die Glas- und Keramikindustrie.
Zwar wurden – auch auf Druck der deutschen Regierung – mit der Sberbank und der Gazprombank die zwei Finanzinstitute, über die ein Großteil der Zahlungen im Zusammenhang mit russischen Öl- und Gasexporten abgewickelt wird, von den Swift-Sanktionen ausgenommen, aber knapp 90 % der langfristigen Rahmenverträge, die deutsche und europäische Energieunternehmen mit dem Exportmonopolisten Gazprom über die Lieferung von Pipelinegas abgeschlossen haben und die einen großen Teil des Gasverbrauchs der Europäischen Union decken, orientieren sich indirekt an der Entwicklung der europäischen Börsenpreise für Erdgas. Daher ist mittelfristig mit einem weiteren Anstieg der Energiekosten für industrielle Produzenten und Verbraucher zu rechnen, zumal in Deutschland konkrete Maßnahmen zum Aufbau einer nationalen Gasreserve erst unter dem Eindruck der russischen Invasion auf den Weg gebracht wurden.
Ausblick
Die hohen Energiepreise dürften die Inflation im europäischen Wirtschaftsraum weiter anheizen und das Wirtschaftswachstum dämpfen. Eine Modellrechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin kam jüngst zu dem Ergebnis, dass ein Gaspreis auf dem hohen Niveau des Spätjahres 2021 im aktuellen Jahr in Deutschland ein um 0,2 % geringeres Bruttoinlandsprodukt bedingen würde. Im kommenden Jahr würde die Wirtschaftsleistung sogar um 0,7 % gemindert werden. Diese Prognosen berücksichtigen allerdings noch nicht die wirtschaftlichen Auswirkungen der in den vergangenen Tagen beschlossenen Sanktionen. Sollte es in den kommenden Wochen und Monaten bei der Versorgung mit Erdgas zu Engpässen kommen oder sich die Europäische Union dem US-amerikanischen Importembargo für russische Energierohstoffe anschließen, dann dürfte der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts wesentlich höher ausfallen.